89/90

Foto: Rolf Arnold/Schauspiel Leipzig

Hilflosigkeit

Von Daniel Merbitz

Die Leipziger Bühnenfassung des Wende-Romans »89/90« von Peter Richter überzeugt nicht. Dies liegt zunächst an der Romanvorlage, wobei der Begriff Roman für diese Plattitüde aus Erinnerungsschnipseln und Anekdoten zu hoch gegriffen ist. Das Beste sind gerade so noch die Fußnoten, wo DDR-Spezifika einer Generation U 40 erläutert werden. Man merkt dem Buch und der Vermarktungsstrategie an, dass hier, wie Ende der 1990er Jahre mit dem »literarischen Fräuleinwunder«, etwas künstlich angeheizt werden soll. Da wollte ein Verlag auf den ebenso peinlichen Clemens-Meyer-Zug aufspringen, der auch meint, für eine Generation sprechen zu müssen. Einspruch!

Die Schwäche der Vorlage lässt dem Regieteam um Claudia Bauer wenig Spielraum. Es gibt: eine Dame, die Jungkommunistin, im Abendkleid aus einer DDR-Fahne, hübsch, »Bonzen, Bier und Bockwurst« als Definition des Kampftages der Arbeiterklasse, das Motto »FDJ-Aufgebot 40«, die Erzählung von prügelnden Vopos. Nur am Rande: prügelnde Polizisten gab es nicht nur bei der Volkspolizei, da reicht heutzutage ein Besuch von Anti-Nazi-Demos, um dies gelegentlich zu sehen. Nein, eine echte Fehlersuche dieses untergegangenen Gesellschaftsentwurfes findet nicht statt und der Nachwendeteil ist arg verkürzt und plakativ, taugt nicht als Erklärungsmuster für heutigen Neofaschismus. Einzig ernstzunehmendes Element ist die gesungene und getanzte Offenlegung der früher und heute in der BRD üblichen demagogischen und irreführenden Verwendung der Begriffe »Arbeitnehmer« und »Arbeitgeber«. Hilflos spult Claudia Bauer den Regietheaterunsinn mangels belastbaren Inszenierungsfaden ab: Riesenvideowand mit bewegter Live-Kamera, Nebelschwaden bis zum Husten und partiell grelles Blendlicht aus dem Off. Man hat das Gefühl, alles schon tausendmal gesehen zu haben. Dann werden Schauspieler in infantile Gnom-Masken gesteckt und der fast dreistündige Abend dem Selbstlauf überlassen. Wenn nicht die aktuell zwei besten Schauspieler des Ensembles versucht hätten, die Inszenierung zu retten: Anna Keil als überzeugte Staatsbürgerkundelehrerin im himmelblauen Dederon-Kleid, kokett und streng und Denis Petkovic als übereifriger und dadurch demaskierter Kommandant eines ZV-Lagers. Der Chor ist qualitativ gut (lobenswerte Einstudierung durch Daniel Barke, insbesondere des Chorals »Kinder der Maschinenrepublik« einer DDR-Rockband) – nur fragt man sich, was dessen Funktion ist. Soviel Hilflosigkeit eines Regieteams ist selten zu erleben. Andererseits aber bei dieser Textvorlage unvermeidlich.

Der Beitrag ist erschienen auf LEIPZIGS NEUE Seiten im Oktober 2016