Erststimmen bei der Landtagswahl in Sachsen

Wer braucht uns denn jetzt?

Von Cornelius Luckner

Ganze 36 Stunden genügten, um wieder in den Trott der alten Rituale zu verfallen. Erst ließ der Schock des Landtagewahl-Ergebnisses vom 1. September in Sachsen (und auch in Brandenburg) die Regierungsparteien beben und Einsicht in den notwendigen Kontakt mit dem ratlosen und verirrten Teil des Wahlvolks geloben, ehe die wahrscheinliche Perspektive einer grünen Regierungsbeteiligung zum beruhigten Durchatmen animierte, damit könne das Meiste in Sachsen ja so bleiben, wie es seit 1990 konservativ zementiert ist. Die partielle, geschmeidige Glättung abweichender Positionen werden die kommenden Koalitionsdialoge mit diversen Posten-Darreichungen schon erledigen.

Die Grünen – weit entfernt von ihren abgehobenen Ergebnisprognosen vor dem Wahlsonntag und eher von Voodoo-Ritualen umflort, denn praktische Ergebnisse haben sie ja noch nicht produziert – verhelfen zwei Wahlverlierern dazu, weiterhin die Dresdner Regierungsbank drücken zu dürfen. Aber immerhin: Grün hat bescheiden zugelegt, was auf Rot überhaupt nicht zutrifft. Das Kräfteverhältnis wurde umgepflügt.

Fast geniert sich der wache Beobachter daran zu erinnern, dass es noch in diesem Frühjahr ein paar politikwissenschaftliche Sandkastenspiele gab, die wissen wollten, ob eine regierungsversessene CDU an der Elbe in höchster Bedrängnis vor einer dreist breitbrüstigen AfD ein ingendwie geartetes Arrangement mit der dauerhaft größten Oppositionspartei im Landtag, der LINKEN, eingehen könnte. Wie weit entfernt das alles inzwischen ist! Und wie groß die Befürchtung wetterleuchtet, dass die Rückkehr in die führende Oppositionsfunktion der LINKEN unendlich viel schwerer fallen wird als ihr krachender Verlust.

Ja, die linke Landtagsfraktion wurde fast halbiert. Solch ein Debakel raubt politisches Kapital und Wahrnehmungs-Vorteile. Dabei mangelte es im Vorfeld der Landtagswahl ja nicht an Analysen und Szenarien, die auch dem angeblichen Sonderfall Sachsen bescheinigten, wie wenig er sich vom übrigen deutschen Osten unterscheidet. Oder haben hier die Beschäftigten persönlich nennenswert am zehnjährigen Wirtschaftswachstum partizipiert, mit dem von interessierter Seite unablässig getrommelt wird? Oder wurden durchdachte Energiekonzepte vorgelegt, die nicht zuerst einen Endzustand in Stein meißeln, um später treuherzig zu fragen, welcher zumutbare Weg denn dorthin führen könnte? Oder erreichen Bahnen und Busse in Sachsen den ländlichen Raum besser als anderswo?

Die Fragen lagen unverstellt auf dem Tisch (zusammen mit dem Renten-Problem, das auf der Bundesebene entschieden werden muss), und die Stimmungsschwankungen gaben kein Rätsel auf. Ungefähr ein Fünftel aller Wählerstimmen bildet in Sachsen eine besonders kritische Masse. Die summarischen Verluste der LINKEN, der CDU und der SPD sind etwa so groß wie die Zugewinne der AfD, eben dieses runde Fünftel. Eine wogende politische Masse wurde gründlich umverteilt, weil sie nicht zuletzt auch von der LINKEN nicht mehr erreicht wurde.

Doch während die bisher gemeinsam Regierenden sich auf der Regierungsbank entsetzt wie in einem morschen Rettungsboot aneinander klammern und mit dem neuen Zauberspruch trösten, die befürchtete Katastrophe sei ausgeblieben, ist der LINKEN neben souveräner Oppositions-Dominanz jegliche Machtoption abhanden gekommen. Dabei wird DIE LINKE unbedingt gebraucht – als glaubwürdiges Korrektiv im demokratischen Spektrum, als ehrlicher Sachwalter der von unsäglichen Zumutungen in der Arbeitswelt Betroffenen und all der Menschen, die das massive Stadt-Land-Gefälle nicht als folkloristische Dekoration, sondern als uneingelösten Anspruch auf Lebensqualität verstehen, schließlich aber auch als ehrlicher Interessenwertreter der Zugewanderten, die sich integrieren wollen. DIE LINKE muss aufstehen! Wohlige Zufriedenheit mit der Leipziger Sondersituation, wo der schlimmste Rutsch nach Rechts eingedämmt wurde, genügt nicht mehr. Dass der Wiederaufstieg in einem konjunkturellen – und folglich sozialen – Umfeld gelingen muss, das nur entfernt noch etwas mit den »idyllischen« Zuständen der jüngsten zehn Jahre zu tun haben wird, macht die Sache in doppelter Hinsicht herausfordernd – als Phase der Anspannung, zugleich aber auch als Druckperiode zugespitzter Konflikte. Den Kompass zurückzugewinnen erfordert ungeschminkte Analysen – und fähiges Personal, dem Strategie etwas sagt und das mit Strategie in der Praxis etwas anzufangen weiß.

Apropos: Die Landtagswahl fand ja am Weltfriedenstag statt. Weit gefasst muss das sicher auch der Tag des sozialen Friedens sein, ohne Widersprüche und Spannungen zu verkleistern. Niemand wird dafür so dringend gebraucht wie eine starke LINKE, die weiß, was sie will und für wen sie das will.

Der Beitrag ist erschienen auf LEIPZIGS NEUE Seiten im September 2019