Mein Freund Harvey. Szene mit

Julia Berge, Michael Pempelforth und Julius Forster in »Mein Freund Harvey« Fotos: Rolf Arnold / Schauspiel Leipzig

Broadway Bosestraße

Von Daniel Merbitz

Konformitätsdebatten kann man philosophisch und soziologisch führen, staubtrocken langweilig oder überhitzt emotional. Oder man besucht die neue Inszenierung im Schauspiel Leipzig: »Mein Freund Harvey« von Mary Chase. Wer ist unnormaler, derjenige, der einen zwei Meter großen weißen Hasen sieht oder die anderen, die sich daran stören? Wer sich abseits der Norm bewegt, hat es nicht leicht. Obwohl Elwood nett, höflich, positiv, zuvorkommend ist, wird er auf seine »Hasen-Macke« reduziert. Schwester, Cousine, Psychiater und Sanatoriumsdirektor – alle sind Teil des Systems, welches Konformität sicherstellen möchte. Dabei sind sie selbst egoistisch, karrieristisch, abgebrüht, verlogen, anbiederisch.

Mit diesem 1944 uraufgeführten Stück hat Mary Chase (1907–1981) einen Welterfolg geschafft. Ein Jahr später gab es dafür den Pulitzer-Preis. In knapp über fünf Jahren hat die Komödie 1775 Aufführungen auf dem Broadway in New York City erlebt, dem härtesten und neonstrahlendsten Pflaster für gepflegten Boulevard. Es folgten mehrere Verfilmungen, 1950 mit James Stewart in den USA oder 1970 in der BRD mit Heinz Rühmann. Heute ist dieses Theaterstück auf deutschen Bühnen eher selten zu sehen.

Mit Orgelklängen öffnet sich der Vorhang, man sieht eine großstädtische, bürgerliche Altbauwohnung, mit Oberlichtern und Harmonium. Ein bisschen Spitzweg-Atmosphäre. Der gleiche Raum wird mit anderem Licht und Wandbild (Sigmund Freud) dann zum Sanatorium. Das Bühnenbild von Etienne Pluss überzeugt.

Wie eine Lawine kommt der Abend langsam ins Rollen, bis er bitter und heiter ins Tal der Gefühle und Konventionen donnert. Intendant und Regisseur Enrico Lübbe vertraut dem Text. Die Figuren werden in ihrer Tragik ernst genommen.

Und er kann auf ein exzellentes Ensemble zurückgreifen. Michael Pempelforth als Elwood: mit Scheitel und Pomade, liebenswürdig, ein Gentlemen des Volkes. Annett Sawallisch spielt genüsslich die Schwester Veta, die sich zwischen Scheinwelt-Zwang und Nervenzusammenbruch aufreibt.


Mein Freund Harvey. Szene mit

Timo Krüger und Anett Sawallisch

Katharina Schmidt zeigt die Tochter Myrtle Mae als früh­reifes Früchtchen, zwischen Lolita und Pippi Langstrumpf changierend. Julia Berke begeistert als Oberschwester Ruth: hoffnungslos naiv und derb den Psychiater anbetend. Dr. Sanderson, der Schönling und Psychiater, erscheint als übergroßer Schatten wie ein grusliger Dr. Caligari – stark gespielt von Julius Forster. Spielfreude pur zeigt Denis Petkovic als Chef des Sanatoriums: ein irrer Irrenarzt, der am Ende selbst den Hasen sieht. Auch die Kostüme von Bianca Deigner im New-York-City-Stil der 1950er Jahre überzeugen und sind nicht unwesentlich für den Broadway-Eindruck.

Ein gelungener, nachdenklich stimmender und zugleich fröhlicher Abend. Gute Komödien sind eigentlich Tragödien. Es bleibt die traurige Erkenntnis: Wer höflich ist, ist verrückt.

Intendant und Regisseur Enrico Lübbe gelingt mit seinem Chefdramaturgen Torsten Buß und dem Bühnenbildner Etienne Pluss sowie der Kostümdesignerin Bianca Deigner ein großartiger Abend. Bester Boulevard mit Hintersinn. Der Stadtplan von Leipzig muss aktualisiert werden: Statt Bosestraße jetzt Broadway.


Mein Freund Harvey. Szene mit

Anne Cathrin Buhtz

Der Beitrag ist erschienen auf LEIPZIGS NEUE Seiten im Februar 2020