Langer Schatten der Tyrannei

Das Zeitgeschichtliche Forum zeigt die Ausstellung
»Gulag. Spuren und Zeugnisse 1929 – 1956« / Von Helge-Heinz Heinker

Es sind diese unendlich trauri­gen, Hoffnungslosigkeit ver­strömenden Blicke, die den Betrachter nicht loslassen. Nur eine junge Frau im schicken Pelz blickt spöttisch in die Kamera, so als wäre sie überzeugt davon, dass sich ein großer Irrtum wohl recht schnell in Wohlgefallen auflösen wird und der ganze Spuk ein gnädiges Ende findet. Ob irgendjemand aus dem Kreis der Abgebildeten wirklich das Glück hatte, dem Sog des Unheils zu entrin­nen, können die Fotos nicht zeigen, und die Informationen über das wei­tere Schicksal der in Brustbild und Seitenansicht gezeigten Personen verschwimmen im Mahlstrom einer erschütternden historischen Untat.

Die Fotos – erkennungdsdienstli­che Aufnahmen der sowjetischen Geheimpolizei – sind Teil der Aus­stellung »Gulag. Spuren und Zeug­nisse 1929 ­ 1956«, die seit dem 12. März im Zeitgeschichtlichen Forum läuft und noch bis zum 29. Juni zu sehen ist. Gulag, das ist die gebräuch­liche Kurzform der russischen Bezeichnung Hauptverwaltung Lager im Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten der UdSSR. Durch den Roman »Archipel Gulag«, der im Jahr 1973 in vielen Sprachen des Westens erschien und in der Sowjet­union verboten war, wurde das Kür­zel weltbekannt. Die Fünfer­Buchsta­ben­Kombination aus der Abkür­zungs­Manie der Bürokraten brannte sich in das internationale Vokabular ein. Das System der sowjetischen Straf­ und Zwangsarbeitslager fand eine literarische ­ und danach eine breite wissenschaftliche ­ Rreflexion, und es trägt seither in der Öffentlich­keit jenen Begriff, den es intern schon immer hatte. Doch ob die Leser, die 17 Jahre früher als die Ostdeutschen oder die Menschen im postsowjeti­schen Raum Kenntnis bekamen vom Gulag, heutzutage Bescheid wissen über das Geschehen weit im Osten, mehr noch: ob sie darüber mehr wis­sen wollen – das ist eine offene Frage. Es ist zugleich eine brennende Frage, die gegenwärtiger ist, als viele glauben. Es geht um Stalinschen Ter­ror und seine Reflexion im Bewusst­sein einer im Grunde aufgeklärten Öffentlichkeit.

Die kleine, gewichtige Ausstellung wurde von der Moskauer Gesell­schaft Memorial zusammengetragen und gemeinsam mit den beiden Stif­tungen Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau Dora sowie Schloss Neuhardenberg realisiert. In Rus­sland war sie bislang nicht zu sehen. In Deutschland war die Zeitspanne zwischen den Zusagen von Politikern und der tatsächlichen Realisierung lang.

Die gezeigten Sachzeugen entstam­men dem in der Sowjetunion überall präsent gewesenen, gleichwohl aber doppelt und dreifach verbarrikadier­ten Geheimdienstmilieu und aus dem bescheidenen Besitz der Opfer. Es ist deshalb erstaunlich, was alles erhal­ten blieb, um Zeugnis abzulegen über historisches Geschehen, das nicht weichen will, weil es nicht vergessen werden kann (und darf).

Berührt und bewegt allein schon der Umstand schmerzlich, dass von Tausenden Verhafteten und Ge­peinigten nicht mehr geblieben ist als eben die Porträts, die sich so tief in das Gedächtnis einbrennen, so ent­wickelt die Ausstellung ihre größten Stärken in einem abgedunkelten Raum mit der Schilderung nachweis­barer Schicksale. Dort werden in einer Endlosschleife persönliche Fo­tos von Verhafteten gezeigt und mit Lebensdaten ergänzt. So rollt in schlaglichtartigen Sequenzen das Leben und das Leiden völlig Un­schuldiger, die im glücklichsten Fall die Hölle überstanden, ebenso ab wie die »Karriere« von Kriminellen und sogar von deutschen Kriegsverbre­chern des Zweiten Weltkriegs. Sie wurden allesamt und unterschiedslos in den Schlund der Terrormaschine geworfen, die in Russland bis heute von Älteren nur resignierend mjaso­rubka, der Fleischwolf, genannt wird. Am Ende fraß der unmenschliche Apparat sogar viele seiner willfähri­gen Schöpfer auf. Mit dem tieferen Ausleuchten der diffizilen psycholo­gischen Situation, dass in der ausgeu­ferten Lagerwelt des Gulag gewöhn­liche Kriminelle und Schwerverbre­cher mit völlig unschuldigen Menschen zusammengepfercht wurden, deren »Schuld« vielleicht darin bestand, dass sie ihr Frühstücksbrot gedankenlos in eine »Prawda« mit dem unvermeidlichen Stalin-­Foto eingewickelt hatten, wäre die Aus­stellung sicher überfordert. Um die Vielschichtigkeit des Geschehenen zu erfassen, kommt deshalb ein ernst­hafter Interessent nicht umhin, die Bücher von Eugen Ruge, die jüngst publizierte »Reise in das Land der Lager« des Polen Julius Margolin, aber auc­h manche Schilderung von Lew Kopelew zu Rate zu ziehen.

Die Ausstellung beginnt mit einem massiven Modell der gewagten Turmkonstruktion, die Wladimir Tat­lin im Jahr 1919 zu Ehren der III., der Kommunistischen Internationale in Petrograd errichten wollte, die aber nie realisiert wurde. Das Projekt gilt längst als ein architektonischer Markstein der Moderne. Selbst viele liberal eingestellte Bürger im Westen begeisterten sich in den 1920er Jah­ren nicht zuletzt am Modell des Tat­lin-­Turms für den ungeheuer heraus­fordernden Anspruch der russischen Revolution, eine bessere, gerechtere Welt schaffen zu wollen.

Der Rundgang geht weiter mit dem fotografierten sowjetischen Alltag und mit dem überquellend­-beschönigenden Optimismus der bunten sowjetischen Plakatwelt jener stürmi­schen Zeit, als die westliche Hemis­phäre in die Weltwirtschaftskrise stürzte und sich die Sowjetunion siegessi­cher an ihren ersten Fünfjahrplan wagte. Doch 1929 war zugleich das Schlüsseljahr der Konsolidierung der Stalinschen Herrschaft. Vom sieben Personen zählenden Politbüro, wie es nach Lenins Tod bestand, saß nach nur fünf Jahren allein noch der dump­fe Tyrann im Zentrum der Macht.

Ja und dann schieben sich in der Gulag­-Ausstellung bereits die Fund­stücke aus den Lagern ins Bild ­– das Sommerkleid, das eine Frau ein Jahr am Leib tragen musste, weil sie nach ihrer Inhaftierung keine andere Klei­dung bekam, das Holzbrett mit den eingekerbten Daten der Arbeitsnor­merfüllung, weil Papier immer knapp war, aber auch diverse Lager­zeitungen, verstörend grobschlächti­ge Alltagsgegenstände aus hilflos umfunktioniertem Müll und Filmse­quenzen vom Leben hinter den hohen, gesicherten Zäunen. Erstaun­lich ist, dass die Masse der präsen­tierten Sachzeugen aus den entlegen­sten Lagern im Osten und Norden Sibiriens stammt, wo zum Beispiel der Bau der irrsinnigen Polareisen­bahn alles an Härte und Brutalität überstieg, was bis dahin geschah. Aus Lagern im Dunstkreis der großen, zentral gelegenen Städte, wo ebenfalls Zehntausende Menschen eingesperrt waren, ist dagegen kaum etwas überliefert. Vermutlich wurde die Sachzeugenschaft dort still und heimlich »entsorgt«.

Angesprochen auf den heutigen Zustand der einstigen Straflager, sagte Arseni Roginski, Historiker der Moskauer Gesellschaft Memori­al anlässlich der Ausstellungseröff­nung in Leipzig, das der eine oder andere Gegenstand in der Perestro­ika-­Phase noch geborgen werden konnte, dass sich in den Resten der Lager inzwischen aber der Zerfall breitmacht, begleitet vom stillen En­tsetzen und Scham über die finste­ren Kapitel der eigenen Geschichte, aber auch Gleichgültigkeit weiter Teile der heutigen russischen Ge­sellschaft. Nur ein einziges Museum in dem riesigen Land – in Perm am Ural – thematisiert die komplexe, abgeschottete, im Unterbewusstsein nicht zur Ruhe kommende Welt des Gulag.

Und damit kommt das schwierige deutsch­-russische Verhältnis ins Spiel. Die Feststellung von Volkhard Knigge, Direktor der Buchenwald-­Stiftung, dass es nicht sein darf, die deutsche Elle an irgendjemand ande­ren anzulegen, war wichtig als ge­dankliches Entree zu der Gulag-­Aus­stellung. Was möglich und geboten ist, beweist schließlich die Ausstel­lung selbst. Die von Memorial in wahrer Sisyphusarbeit zusammenge­tragenen Exponate durften aus Rus­sland »ausreisen.« Der passende Wunsch, als ganzheitliche Ausstel­lung dorthin zurückzukehren, stieß bis dato auf wenig Interesse und Gegenliebe. Die sarkastische Bemerkung »Die Schatten von Gaz­prom sind lang« füllte düster den Vorraum der Exposition.

Fast 30 Jahre nach dem Beginn von Glasnost sollte Befreienderes möglich sein. Denn der Gulag­-Kos­mos breitete sich nicht zwangsläufig aus (eine Feststellung aus dem Begleitband der Ausstellung), ihm gingen politische Schlachten und die Neigung zum Zwang in einer Gesell­schaft voraus, die das Tor zum »Reich der Freiheit« doch eigentlich weit aufstoßen wollte. Buchenwald-­Stiftungsdirektor Knigge unter­strich, dass das 20. Jahrhundert nicht darauf reduziert werden dürfe, dass es überall Lager gab. Diese Klarstel­lung in Leipzig wollte er ausdrück­lich nicht mit, sondern gegen Ernst Nolte verstanden wissen, jenen Aus­löser des bundesdeutschen Histori­kerstreits des Jahres 1986. Noltes unsägliche Behauptung, der faschi­stische »Rassenmord« sei eine Re­aktion aus Furcht vor dem vorange­gangenen »Klassenmord« der Bol­schewiki gewesen, stieß damals auf breite Ablehnung. Die Erinnerung daran ist zeitgemäß.

Spuren und Zeugnisse aus dem Gulag können angesichts der Dimension des Terrors der Stalin-­Jahre und wegen der Maßlosigkeit seiner Reichweite allerdings nur Umrisse des Geschehenen nach­zeichnen. Der reich bebilderte Begleitband bleibt deshalb mit Sicherheit ein wichtiges Handbuch weit über die Dauer der Ausstellung hinaus. Dass jedoch mit »Gulag. Spuren und Zeugnisse 1929 – 1956« eine Schneise in das stickige Dickicht völlig nachrangiger Ablen­kungsthemen der heutigen Zeit geschlagen wird, bleibt ein unver­gängliches Verdienst der Initiatoren dieser wichtigen Reflexion von Geschichte und Gegenwart.

Es ist einer breiten Öffentlichkeit zu wünschen, sich in die gezeigte Thematik zu vertiefen. Gerade Jün­geren eröffnet die Ausstellung einen Zugang, die lastende Gulag­-Erinne­rung nicht als platte Grusel-­Historie misszuverstehen, sondern Hinter­gründe zu erkennen, vor allem an­hand der gezeigten Lebenswege.

Wer die Verwüstungen der soziali­stischen Idee, die angetreten war, eine bessere Welt zu schaffen, ver­stehen will, der muss sich auf die Gulag­-Ausstellung einlassen. Das Wissen um das Geschehene relati­viert oder beschädigt den Traum von einer gerechteren Welt in keiner Weise. Gesichertes Wissen wird vielmehr gebraucht, um den schärf­sten aller denkbaren Trennstriche zu ziehen – zwischen dem Anspruch einer fortschrittlichen Gesellschaft und allen tyrannischen Entgleisun­gen und Pervertierungen in der poli­tischen Praxis.

Der Beitrag ist erschienen in LEIPZIGS NEUE, Ausgabe April 2014

Aktualisiert am 12. Mai 2014 LEIPZIGS NEUE • StartseiteKontaktImpressum