Einstürzende Altbauten

Von Thomas Biskupek

Mit dem weitgehend sinnfreien Liedlein »Am 30. Mai ist der Weltuntergang« kreierte das Golgowsky-Quartett in der alten BRD vor 60 Jahren einen Nummer-1-Hit. Nun versucht Leipzig auf seine spezielle Weise nachzuholen: Am 30. Mai krachte der hintere Teil des schon lange leerstehenden Gebäudes Eisenbahnstraße 43 zusammen. Auf der Straße landeten zwar nur ein paar Putzbrocken. Aber wer will schon garantieren, dass es damit sein Bewenden hat?

Die starkbefahrene Straße wurde gesperrt. Die drei dort verkehrenden Straßenbahnlinien fuhren Umwege oder entfielen. Ein ganzes Viertel musste fortan zum 70er Bus laufen und umsteigen oder zu Fuß durch den Elsapark oder zum Listplatz gehen und mit Bus oder Straßenbahnlinie 3 zum Hauptbahnhof fahren.

Informationen an die Bürger fielen dürftig aus, obwohl man über Tafeln verfügt, die aus der Ferne gesteuert werden können. Die Haltestellenschilder wurden zugehängt, die Straße in ihrer Breite abgesperrt. Fußgänger mussten die andere Straßenseite nutzen.

Am 4. Juni hieß es: Bis 11. Juni muss der Zustand so bleiben.

Karge Nachrichten besagten später: Keine Änderung. Der Eigentümer wurde aufgefordert, Notfallmaßnahmen zu ergreifen. Dann wurde ein Sicherungskonzept oder ein Abrissplan verlangt. Die spärlichen Informationen verraten, nur die Stadt wisse, wer der Eigentümer ist. Wenn das stimmt, kann es ein Sicherungskonzept von 2004 gar nicht geben, das vom Eigentümer seinerzeit aufgestellt und umgesetzt worden war. Warum diese Informationen im Nebel bleiben, wird der Bürgerschaft vorenthalten.

Aber gerade hier wäre es doch interessant geworden. Wenn es schon vor zehn Jahren ein Sicherungskonzept gab und die Stadt davon wusste, kannte sie auch den Eigentümer. Wenn so ein Konzept existiert, muss man fragen, wieso der Altbau einstürzte. Und dann würde die Frage aktuell, wer den Schaden trägt, der für Tausende Bürger, für die Händler an der Eisenbahnstraße und nicht zuletzt für die Leipziger Verkehrsbetriebe entstand.

»Die Sperrung seit 31. Mai wegen eines einsturzgefährdeten Hauses ist für einen so langen Zeitraum nicht hinzunehmen«, erklärte CDU-Stadtrat Konrad Riedel kurz nach diesem Termin. »Sie schließt weite Gebiete des Leipziger Ostens vom Verkehrsanschluss aus.« Er kritisierte, dass den Leipziger Verkehrsbetrieben durch die Umleitungen der Straßenbahnlinien 1, 3 und 8 Zusatzkosten im fünfstelligen Bereich entstehen. Das Amt für Bauordnung und Denkmalpflege sprach mit dem Eigentümer, um den Verkehr kurzfristig wiederherzustellen.

In der Hegel-Apotheke ist zu hören, der Umsatzeinbruch sei enorm, weil viele Leute bewusst hier umsteigen, um notwendige Einkäufe in der Apotheke zu erledigen. Ähnlich ist das beim Bäcker daneben und im Tabakladen. Rolf Müller im Spezialgeschäft für Haushaltwaren und vor allem für Messer beklagt sich aus dem gleichen Grund. Mancher kauft bei ihm auch LVB-Fahrkarten. Während der Sperrung kaufte natürlich keiner. Nur die Abbuchung durch die Verkehrsbetriebe erfolgte prompt.

Inzwischen wurde das beschädigte Haus durch ein Schutzgerüst gesichert. Straßenbahnen dürfen die Stelle mit einer Geschwindigkeit von 10 km/h passieren. Damit soll die Erschütterung gering gehalten werden. Leipzig hat seine ganz spezielle Variante vom 30. Mai und dem Weltuntergang vorgeführt. Übrigens wird das eingangs erwähnte Lied fortgesetzt mit »Wir leben nicht mehr lang«. Na denn!

Der Beitrag ist erschienen in LEIPZIGS NEUE, Ausgabe Juli / 2014

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