Das verlorene Gefühl sozialer Unangreifbarkeit

Von Norbert Marohn

Vorweg und vorbehaltlos: Es gibt mehr als einen Grund, diese Zeitzeugnisse, Bekenntnisse und Erkenntnisse zu lesen, die sich gegenseitig anstoßen. Sie durchbrechen das – besonders bei Jubiläen – verkündete Siegerschema einer Gegenwart ohne Alternative. In diesem Buch ist etwas zu erfahren über den deutsch-deutschen Systemwechsel, wie er unten ankam. Wie es war, als sich die »Brüder und Schwestern« nicht nur besuchsweise oder in Politikerreden, sondern hautnah »wiedervereinigten«.

Schon für die erste Generation nach 1989 bleiben das Alltagsleben wie das Staatsgepräge der DDR ferne Zeit. Ein versunkenes Land. Daran erinnern sich dreißig Frauen und Männer: Arbeiter und Direktoren aus volkseigen genannten Betrieben, Erzieherinnen, Journalisten, Ärzte, Wissenschaftler. Bewusst verändert Herausgeberin Katrin Rohnstock die authentisch-mündliche Erzählweise nicht, so dass die Augenhöhe des Erlebten erhalten bleibt. Je mehr Beteiligte von heute aus ihre Arbeit und den letzten Tag im Beruf überdenken, was stellt sich heraus?

Vier Stimmen sollen für die Spannweite der wiedergegebenen Lebensgeschichten stehen.

Regelmäßig waren an der Lackmaschine die Düsen verstopft. »Die repariere ich in der Nachtschicht«, versprach unser Ingenieur. »Ehe die Kombinatsleitung welche besorgt hat, bin ich längst fertig.« Aus Plaste drechselte er neue Düsen. Auf die Hilfe von oben zu warten, dauerte länger und war teurer, als die Kreativität der Brigaden zu nutzen. (S. 51)

Immer bin ich auf der Suche nach neuen Aufgaben. Ich ruhe mich nicht aus, schaukle nicht in der ›Hartz-IV-Hängematte‹, wie es viele Junge tun, während wir Alten um die Anerkennung von Abschlüssen, Berufsjahren und gezahlten Rentenbeiträgen kämpfen. Sich ständig verteidigen und erklären zu müssen, ist entwürdigend. Ich habe mir nichts vorzuwerfen. Ich war mit 61 Jahren das erste Mal auf dem Arbeitsamt. (S. 59)

Es war gut, dass 1989 die Wende kam. Alles andere hätte das Leiden nur verlängert. Dass wir nicht an der internationalen Arbeitsteilung teilgenommen und Geld als Wert- und Tauschobjekt de facto abgeschafft hatten, waren die Sargnägel unseres Wirtschaftssystems. (S. 222)

Gern würde ich meiner kleinen Tochter später einmal die Überbleibsel der DDR zeigen, ihr meine Geschichten erzählen: Dass ihr Vater mal Kaffee ausgeschenkt hat in einem Volkspalast, den viele heute noch ›Erichs Lampenladen‹ nennen; dass ich diesen Erich habe tanzen sehen; dass meine Kindheit und Jugend in der DDR schön waren. Ob sie verstehen wird, dass es einmal parallel zwei deutsche Staaten gegeben hat, deren Welten 1989 aufeinanderprallten? (S. 86)

Menschen denken zwanzig Jahre oder länger zurück. Einer hält für Wahrheit, was Andere nicht betrifft. Tatsachen wie Gerüchte oder Irrtümer können das Gleiche bewirken, ergeben ein Zeitbild – verbunden mit hunderten persönlichen Schicksalen: Die hier geschilderten stehen für viele und, so könnte man sagen, ergeben eine kollektive Biografie. In der Summe von Erfahrungen wird sowohl ein Längsschnitt (von der Straßenbahnfahrerin bis zum Staatssekretär) als auch ein Querschnitt durch die DDR (vom Distanzierten bis zum ›Hundertfünfzigprozentigen‹) konturiert. Da vermisse ich ein Verzeichnis der erwähnten politischen Hauptakteure jener Zeit, das hätte ein Nachblättern erleichtert.

In diesem Buch geht es nicht um ein verklärtes Vergleichen unter Älteren: »Ach ja, genau wie bei mir«; hierzu veranlassen weder die heute belächelten Widrigkeiten im Alltag, noch und vor allem nicht – auch davon zeugen genügend Berichte – die Wucherungen einer überzentralisierten Politbürokratie, mit der kein Sozialismus zu verwirklichen war. Was die Deutsche Demokratische Republik bot, blieben gewisse feste Verhältnisse. Die Art des Zusammenlebens in ihr ist bisher zu wenig unvoreingenommen dokumentiert, geschweige denn tiefgehend analysiert worden. Im Nachwort benennt Wolfgang Engler das in der DDR weit verbreitete Grundgefühl sozialer Unangreifbarkeit, aus dem sich so etwas wie eine Mikrobindung an das kleine Land ergab.

Im Nachhinein, überraschend für manch Außenstehenden, stellt sich heraus: In diesem anderen deutschen Land wohnten nicht nur Funktionäre, die Masse der Bürger lebte nicht mit dem Politbüro. Was ihnen der Betrieb bedeutet hatte, zeigte sich für viele, als der Staat zu zerfallen begann. Der Arbeitsplatz blieb die Stelle, wo’s noch funktionierte, die ihnen Halt gab. Dass ihr VEB aufhörte zu produzieren und aufhörte, ihr Leben zu sein, bildet die Tragik mancher Entlassener.

Ein Staatsvertrag siegelte 1990 deutsche Einheit. Nun gehört das Erbe DEUTSCHE DEMOKRATISCHE REPUBLIK zum Entwicklungsweg der Bundesrepublik Deutschland. Die, die jetzt Ostdeutsche sind, müssen die Geschichte ihres Alltags selber schreiben, denn für sie wird es niemand tun. Es kann nicht genug solcher persönlich beglaubigter Lebenszeugnisse geben – nicht zuletzt für kommende Generationen, die sich nicht mit Siegerschemen begnügen, sondern eine differenziertere Sicht entwickeln wollen. Dann können sie getrost auch auf diese Zusammenstellung zurückgreifen, die indessen heute schon ein gelungenes, ein lesenswertes Buch ist.

Der Beitrag ist erschienen in LEIPZIGS NEUE, Ausgabe Dezember 2014

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