Kapelle in der JVA

Orte, die man im Gefängnis nicht vermutet? Eine Gitarre in der Kapelle zeigt, dass hier auch Musik gemacht, und die Bibliothek, dass gelesen wird, bevorzugt »Die Kinder vom Bahnhof Zoo« oder »Der Herr der Ringe«.

Bibliothek in der JVA

 

»Damit das Leben friedvoller wird«

Pfarrer Mike Bauer arbeitet als Gefängnisseelsorger in der JVA Leipzig
Von Roman Stelzig

Es ist nicht so, wie man das aus Filmen kennt«, antwortet mir Mike Bauer, ob er manchmal Angst habe. »Deeskalieren ist immer wichtig. Aber bei den meisten hier muss man keine Angst haben. Wenn ich auf sie zugehe, Offenheit zeige oder auch Spaß mache, sind sie dafür zugänglich.«

Eine leichte Unsicherheit beschleicht mich trotzdem, als wir in den Gängen der Justizvollzugsanstalt Leipzig wandeln. Ich fühle mich nicht bedroht, aber den Ausdruck der jungen Gesichter, in die ich blicke, kann ich nicht deuten. Ist es Neugier oder eine provokative Distanz gegenüber uns, die wir offenkundig nicht hierher gehören? Verübeln kann ich es nicht. Denn um ehrlich zu sein, frage ich mich selbst, ob das krampfhafte Lächeln, hinter dem ich meine Gedanken verberge, etwas deplatziert wirkt an diesem Ort. Doch meine Unbeholfenheit scheint mir ein Zeichen dafür, dass die Arbeit von Mike Bauer besonderer Fähigkeiten bedarf.

»Man muss zuhören können und selber relativ gut wissen, wo man steht«, beschreibt er die Anforderungen an seinen Beruf. »Der Mensch steht nicht für sich alleine, sondern in Beziehung, und kann das nur, wenn er weiß, wo er ist.« Zu dem evangelischen Pfarrer gestaltet sich unsere Beziehung aufgeschlossen sympathisch, während wir in seinem Büro plaudern. Das Diktiergerät, das sonst jedes Wort akribisch aufzeichnet, bleibt eine Zeit lang ausgeschaltet. Wir nehmen uns Zeit zum Kennenlernen.

»Verwurzelt« ist Mike Bauer in Sachsen. »Ich stamme aus einem Ort, der weggebaggert wurde und habe als Kind Entwurzelung erlebt gegen meinen Willen. In den 80er Jahren habe ich die Schule verlassen und einen Beruf gelernt. Dann bin ich zum Theologiestudium gegangen, weil ich etwas anderes hören wollte als, was ich in der Schule mitgekriegt habe. Das Studium war für mich ein Ort des Friedens, des Hinterfragens, wo sehr viel über Philosophie oder Psychologie gelehrt wurde, wo wir viel im Theater waren oder im Kino. So habe ich in der Kirche meine Verwurzelung wiedergefunden als Raum der Freiheit.« Der Wendezeit folgte die erste Beschäftigung als Gemeindepfarrer, bis die Landeskirche einen Austausch der Pfarrstellen vorsah. Ein Kollege vermittelte, »so bin ich hier gelandet.

Für mich ist es ein Vorteil, dass ich hier konzentriert arbeiten kann und ein großer Teil der Pfarramtlichen Verwaltungsarbeit für Gebäude und Friedhof wegfällt.«

Ein Unterschied zur Gemeindearbeit besteht aber darin, »dass die Menschen hier nicht freiwillig sind.« 516 Gefangene befinden sich in der JVA, darunter 400 im Hafthaus, der Rest im offenen Vollzug und einem Krankenhaus, das Patienten aus Thüringen und Sachsen versorgt.

»Untergebracht sind hier Gefangene in Untersuchungshaft, solche mit einer Haftdauer von zwei Jahren und diejenigen, die eine Ersatzfreiheitsstrafe absitzen. Kurzstrafen betreffen z.B. Diebstahl oder Körperverletzung. Beschaffungskriminalität und Drogendelikte sind weit verbreitet.«

Für sie steht Pfarrer Mike Bauer als Seelsorger zur Verfügung. »Es gibt noch einen katholischen Kollegen. Zum Gottesdienst kommen zwischen 40 und 80 Besucher. Viele im Haus, wie Suchtberater, Psychologen, Sozialdienst oder Bedienstete nehmen sich auch Zeit für Gespräche.«

»Ich biete Menschen die Möglichkeit, nachzudenken«, beschreibt er seine Tätigkeit, »was zum Beispiel in der Vergangenheit gewesen ist, oder über Verletzungen, die sie erlitten haben. Gespräch kann Entlastung sein im Haftalltag. Es kann aber auch tiefgehen. Ich überlasse das meinen Gesprächspartnern. Wenn ich den Eindruck habe, dass man da noch etwas ansprechen könnte, kann ich motivieren, aber ich werde es nicht verlangen.

Als Pfarrer habe ich einen Hintergrund biblischer Geschichten und Menschheitsgeschichte, die ich einbringe, und das, wir als Auftrag Jesus sehen: Die Nächstenliebe. Vielleicht sogar so weit, auch in dem Feind einen liebenswürdigen Menschen zu erkennen, mit dem Ziel, dass Feindschaft überwunden wird. Es ist wichtig für die, mit denen ich spreche, und für die, die dann hoffentlich nicht wieder Opfer werden, dass mein Gesprächspartner, es schafft, nach der Haft auf einen Weg zu kommen, der trotz brüchigen Geschichten anders verläuft.«

Auf die Frage, ob er an dem Erfolg seiner Arbeit manchmal zweifelt, bekennt der Seelsorger: »Ich denke, das geht vielen Menschen so. Trotzdem: Ich halte es für sinnvoll, mit Menschen zu sprechen, damit das Leben friedvoller wird.« Die zum ihm kommen, bewegen verschiedene Probleme: »Es geht los mit einfachen Bedürfnissen. Wo bekomme ich Geld her? Wie kann ich mir Tabak kaufen oder ein Telefonkonto eröffnen? Öfter kommen Fragen derart: Die Freundin hat Schluss gemacht. Mir geht es gerade schlecht. Was wird jetzt mit meinen Kindern?

Oder es gibt jemanden, der einmal darüber reden möchte, was in seinem Leben passiert ist, und das nicht gleich mit einem Psychologen oder Sozialarbeiter. Da geht es um die Lebensgeschichte oder die Zukunft.

Zum Ende der Haft stellt sich oft die Frage: Wie geht es draußen weiter? Was muss jetzt geklärt werden? Daran arbeiten wir als Seelsorger mit. Manchmal begleite ich Leute auch noch, wenn sie draußen sind.«

Ob es schlechte Menschen sind, die hier im Gefängnis sitzen, frage ich Mike Bauer und erhalte zur Antwort: »Als Seelsorger sage ich: Menschen sind nicht schlecht oder gut. Sie sind Menschen. Dazu gehört, dass wir Dinge tun, die wir als gut oder schlecht bezeichnen. Im Gefängnis sind die, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind. Ich sehe als gut an, was dem Leben dient, zum Beispiel Beziehung, Partnerschaften, Familien, Freundeskreise. Die Liebe ist für mich das Beste. Schlecht ist – an Albert Schweizer angelehnt – was Leben hindert oder zerstört.«

Um eine Entschuldigung geht es ihm nicht. »Ich möchte unterscheiden: Was ist Tat? Und wie ist sie entstanden? Die Ursachen einer Tat können sie erklären, aber nicht rechtfertigen. Es begehen auch nicht alle, die als Kind geschlagen oder sogar sexuell missbraucht wurden, Straftaten. Wenn ich mit einem Gefangenen rede, geht es zunächst um die Frage: Wie ist etwas geworden? Das kann ich nachvollziehen. Aber ich werde nicht gut heißen, wenn jemand einen Menschen umbringt oder in Wohnungen einbricht und damit den Rückzugsraum einer Familie zerstört. Das kann und muss ich verurteilen.«

Nicht ohne kritischen Blick geschieht das: »Aus meiner Sicht ist Reue ein wichtiger Begriff beim Strafen: Spüren, dass ich eine Grenze überschritten und damit das Leben anderer eingeschränkt habe. Wenn Strafe einen Sinn hat für mich, dann diesen. Ich erlebe Reue. Ich erlebe Scham. Und ich erlebe Menschen, die nicht wissen, wie sie umgehen können mit der Schuld, die sie auf sich geladen haben. Ich erlebe aber auch, dass das System des Freiheitsentzuges genau das behindern kann, wenn Gefangene sich in einer Art Opferrolle befinden. Den Entzug von Freiheit halte ich für einen massiven Eingriff in das Leben eines Menschen. Man kann ergänzen: Genauso wie jemand, der in eine Wohnung einbricht in das Leben anderer eingreift. Trotzdem sollte es andere Möglichkeiten geben. Ich halte es zum Beispiel nicht für sinnvoll, die Straftat Erschleichen von Beförderungsleistungen, also Schwarzfahren, im Gefängnis abzusitzen, übrigens auch nicht, dass das eine Straftat ist. Aber: Ich bin nicht bei der Justiz angestellt, sondern Pfarrer der Kirche. In dieser Funktion bin ich für Menschen da, die im Gefängnis leben. Sonst könnte ich das nicht. Der Gesetzgeber versucht auch, den Vollzug zu verbessern. Der Entzug der Freiheit ist die Strafe, nicht, dass es hier besonders hart sein muss. Das stößt bei vielen auf Unverständnis, die meinen, die Leute müssten auf die Galeere. Das ist nicht das Denken des Rechtssystems. Und auch nicht meines als Christ. Es hilft nicht, wenn sich kriminelle Einstellungen verfestigen, sondern wenn wir Menschen eine Perspektive geben, oder helfen, sie zu finden.«

Einen Wunsch hat Mike Bauer sich vor kurzem erfüllt: Ein Union-Jack und eine Tasse mit der Aufschrift »I love London« zeugen von einem Besuch in der Stadt. Neben Musik oder Momenten der Stille liegt ihm seine Familie am Herzen: »Für mich ist am wichtigsten, dass es mit meinen Kindern vorangeht und wir eine gute Zeit haben. Ich möchte, dass sie abgesichert sind, und dafür alles tun, was ich kann, damit sie ihren Weg einmal alleine gehen können.«

»Wenn ich in den Sprachen der Menschen und Engel redete, hätte aber die Liebe nicht, wäre ich ein dröhnendes Erz oder eine lärmende Pauke.« 1. Korintherbrief 13

Der Beitrag ist erschienen in LEIPZIGS NEUE, Ausgabe März 2015

LEIPZIGS NEUE SEITEN StartseiteKontaktImpressum