Winken

Wenn meine Eltern ihren Besuch zum Zug brachten, winkten sie zum Abschied. Auch alle Abfahrenden winkten: Sie hielten die Hände aus dem Zugfenster und wedelten mit ihnen auf und nieder. Auf einer Urlaubsfahrt bemerkten wir vor uns ein Auto, an dessen Rückfenster eine giftgrüne Hand wackelte. Es war eine aus Gummiband, die innen an der Scheibe kleb­te und sich hin und her bewegte. In der Stadt tra­fen wir viele Autos mit Wackelhand: knallgelbe, organgenfarbene, pinkfar­bene und auch giftgrüne. Im Fernsehen erkannten wir die Wackelhand wie­der; nur war sie hautfar­ben. Leute, die anderen Leuten winkten, bewegten die Hände nach rechts und links, nicht wie im wirkli­chen Leben von vorn nach hinten. Klar, die Mattschei­be drückt alles räumliche platt. Doch auf der Straße entdeckten wir das gleiche: Kinder, die sich von der Oma verabschiedeten, spreizten die Patschhänd­chen und bewegten sie seit­lich hin und her. Auch die Mutti, ein Kind auf dem Arm, winkte mit der freien Hand nach links und rechts, links und rechts, als wenn sie hinter einer Scheibe stünde.

Sie winkten fernsehge­recht! Nicht, dass sie glaubten, die versteckte Kamera lauere in der Nähe – sie haben sich so an die platten Bilder auf der Matt­scheibe gewöhnt, dass sie sich selbst im wahren Leben nur noch hinter einer Scheibe sehen. Freiwillig verzichten sie auf die Raumtiefe, auf den Raum, in dem wir uns im wirkli­chen Leben bewegen.

Bald laufen die Men­schen nur noch von links nach rechts oder von rechts nach links, wenn sie eigentlich von vorn nach hinten oder aus dem Hin­tergrund nach vorn gehen wollen. Und beim Küssen dauert es dann lange, bis die Lippen zueinander fin­den, denn man muss sich nun von der Seite heranar­beiten und könnte dabei an der Nase landen.

Der Beitrag ist erschienen in LEIPZIGS NEUE, Ausgabe August 2014