Nach Sonnenuntergang

Kerstin fragt ihre Freundin, die am Stadtrand wohnt: »Wann bist du denn mit Sicherheit telefonisch zu erreichen?« – »Du weißt, ich gehöre nicht zu den Leuten, die den ganzen Tag lang mit dem Handy am Ohr herumlaufen aus Angst, irgendetwas zu verpassen«, antwortet diese. »Ja, aber irgendwann musst du doch zu Hause sein – vormittags nicht, nachmittags bist du unterwegs – wann bist du da?« – »Nach Sonnenuntergang.« – »Wie bitte?« – »Nach Sonnenuntergang.« – »Das ist aber eine sehr ungenaue Zeitangabe.« – »Das ist die genaueste Zeitangabe, die möglich ist. Die stört nicht mal eine falsch gehende Uhr.« – »Aber woher weiß ich denn, wann die Sonne untergegangen ist?« – »Na, wenn sie hinterm Horizont verschwunden ist. Danach schimmert es noch etwas rötlich, doch dann ist es bald richtig dunkel.« – »Wo kann ich denn mitten in der Stadt einen Horizont sehen?«– »Aber du siehst, wann es dunkel geworden ist.« – »Nein, die Straßenlaternen gehen schon vorher an.« – »Na, dann blickst du eben zum Himmel.« – »Wenn ich hochgucke, sehe ich Straßenlaternen und die Drähte von der Straßenbahn, die im Licht dieser Lampen leuchten.« – »Und dazwischen? Vielleicht doch ein Stück Himmel? Auch wenn du in der Stadt unterwegs bist, kannst du den Himmel sehen.« – »Wozu? Auf die Idee bin ich noch nie gekommen.«

Der Beitrag ist erschienen in LEIPZIGS NEUE, Ausgabe April 2015